Interview: Kompetenzen und Ausbildungsbedingungen in Pflegeberufen : Datum:

Kompetenzen, die in der Pflege eine Rolle spielen, sind Dreh- und Angelpunkt des Projekts EKGe. Wie das Projekt vorgeht, um diese Kompetenzen mit Hilfe digitaler Instrumente schon in der Ausbildung zu fördern und gleichzeitig mehr über pflegerische Ausbildungsbedingungen zu erfahren, erklärt Professorin Eveline Wittmann.

Eveline Wittmann
Eveline Wittmann ist Professorin für Berufspädagogik an der TU München. © Privat

Ascot-vet.net: Bitte beschreiben Sie Ihr Projekt in wenigen Sätzen.

Eveline Wittmann: Im Projekt EKGe loten wir aus, wie Kompetenzen, die in der Pflege eine Rolle spielen, schon in der Ausbildung möglichst gut gefördert werden können. Hierzu entwickeln wir zum einen digitale, videobasierte Testinstrumente in Form sogenannter Situational Judgement Tests (Tests zur Situationsbeurteilung), um zentrale Kompetenzbereiche zu erfassen, und zum anderen eine Lehr-Lern-Einheit, die Lehrkräfte im Unterricht einsetzen können. Zudem versuchen wir mithilfe einer App mehr darüber zu erfahren, welche Ausbildungsbedingungen Kompetenzen fördern.

Dabei beziehen wir uns in unserem Projekt konkret auf zwei Kompetenzen: Erstens, die interprofessionelle Kooperationskompetenz, das heißt die berufsübergreifende Zusammenarbeit von Berufsgruppen im Gesundheitswesen, und zweitens die Bewältigungskompetenz für pflegetypische Belastungen.

Ascot-vet.net: Zu welchem Problem der Berufsbildungspraxis wollen Sie einen Lösungsansatz liefern?

Schmuckbild zum Projekt EKGe: Blick in einen Krankenhausflur
Der Fachkräftemangel in der Pflege ist nicht erst seit der Corona-Pandemie ein Problem. © Adobe Stock/upixa

Eveline Wittmann: Der Fachkräftemangel ist eine ganz wesentliche Herausforderung in den Pflegeberufen – vor allem im Zusammenhang mit der Bewältigungskompetenz. Die Corona-Pandemie hat übrigens viele Belastungsfaktoren noch einmal verstärkt und sichtbarer gemacht. Durch den Mangel an Fachkräften stehen nicht nur diese zunehmend unter Zeitdruck, auch die Auszubildenden werden oft in höherem Maße beansprucht als geplant. Hierdurch erscheint der Pflegeberuf nicht attraktiv, sodass viele die Ausbildung vorzeitig verlassen. In unserem Projekt versuchen wir herauszufinden, welche Situationen in Einrichtungen bei den Auszubildenden Belastungen erzeugen. Fachkräfte und Auszubildende sollen außerdem auf individueller Ebene unterstützt werden, besser mit den Belastungen umgehen zu können.

Ein Problem im Hinblick auf die interprofessionelle Kooperationskompetenz ist, dass es hierzu kaum Forschung im nationalen Kontext gibt. Dabei ist interprofessionelles Handeln in der Pflege in den Rahmenplänen verankert. Und durch das neue Pflegeberufegesetz haben Pflegende mehr Verantwortung erhalten, was die sogenannten „vorbehaltenen Tätigkeiten“ betrifft: Sie bringen sich zum Beispiel mit ihrer Expertise gezielt im interprofessionellen Austausch ein, wenn es darum geht, Pflegeprozesse zu planen. Als neue Aufgabe für die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen ist die Telemedizin hinzugekommen. So gibt es in der ambulanten Versorgung neuerdings Settings, in denen mit Arztpraxen zum Beispiel über Video kooperiert wird.

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Interprofessionelles Handeln in der Pflege ist in den Rahmenplänen verankert. Wir sind das erste empirische Forschungsprojekt in Deutschland, welches sich die Entwicklung dieser Kompetenz über den Ausbildungsverlauf hinweg anschaut.

Eveline Wittmann

Dass wir generell wenig über pflegerische Ausbildungsbedingungen wissen, ist eine weitere große Herausforderung. Wir wissen zum Beispiel, dass es restriktive Bedingungen bei der Arbeit gibt, also etwa Arbeiten unter Zeitdruck. Aber wie wirken sich diese Bedingungen auf die Ausbildungsergebnisse aus? Wenn wir das herausfinden, lassen sich Aussagen machen, durch welche systemseitigen Maßnahmen sich emotionale Beanspruchungen reduzieren und die Bewältigungskompetenz der Pflegenden fördern lassen. Damit könnte auch der Verbleib der Pflegekräfte unterstützt werden. Ziel ist es, am Ende Empfehlungen für die Ausgestaltung der Curricula abzuleiten.

Ascot-vet.net: Wie gehen Sie dabei vor?

Eveline Wittmann: Um mehr über Ausbildungsprozesse in Praxiseinrichtungen zu erfahren und darüber, wie Ausbildungsbedingungen auf die beiden ausgewählten Kompetenzen wirken, haben wir ein digitales Messinstrument sowie einen Fragebogen entwickelt. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass die Fragen in der App stärker situiert sind. Hierin wird zum Beispiel danach gefragt, ob es am selben Tag eine belastende Situation gab oder ob eine Praxisanleitung stattfand. Wir wollen herausfinden, welche Bedingungen die Kompetenzen fördern, auf die wir schauen. Dazu gehört zum Beispiel, ob innerhalb der Einrichtung interprofessionelle Zusammenarbeit eine besondere Rolle spielt. Forschungsfragen zielen etwa darauf, inwieweit die Pflege-Auszubildenden mit anderen Berufsgruppen zusammenarbeiten oder ob sie an interprofessionellen Visiten teilnehmen, um die Perspektive anderer Fachkräfte mitzubekommen.

Neben der Erfassung der beiden Kompetenzen entwickeln wir in enger Kooperation mit Lehrpersonen an Partnerschulen eine Lehr-Lern-Einheit zur Nutzung im Unterricht, um die individuelle Bewältigungskompetenz zu fördern. Mit deren Hilfe können Lehrkräfte mit ihren Schülern und Schülerinnen Strategien erarbeiten, um mit belastenden Situationen umzugehen und die Pflegenden darin unterstützen, künftig selbst Bewältigungsstrategien für bestimmte Situationen zu entwickeln. Wir setzen dies zum Beispiel durch in Hörspielen dargestellte Fallsituationen um. Derzeit wird die Lehr-Lern-Einheit noch wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit hin untersucht.

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Unsere Lehr-Lern-Einheit gibt Pflege-Azubis hilfreiche Werkzeuge an die Hand, um mit Belastungen umzugehen.

Eveline Wittmann

Auch für die Förderung der interprofessionellen Kooperationskompetenz von Pflegekräften wäre eine Lehr-Lern-Einheit wünschenswert. Hier sind wir aber noch nicht so weit. Es gilt zunächst, eine bessere Vorstellung davon zu entwickeln, was genau gute interprofessionelle Kooperation ausmacht, um diese dann gezielt fördern zu können.

Ascot-vet.net: Welchen Vorteil bietet Ihr Vorhaben für die Praxis?

Eveline Wittmann: Von der Lehr-Lern-Einheit zur Bewältigungskompetenz profitiert die Praxis am sichtbarsten direkt. Lehrkräfte erhalten hiermit ein Instrument an die Hand, um ihren Auszubildenden Strategien zur Bewältigung von Belastungen zu vermitteln. Die Einheit umfasst zwölf Unterrichtsstunden und bildet Inhalte der neuen Rahmenpläne der Pflegeausbildung ab. Sie kann sowohl im Präsenzunterricht als auch im virtuellen Unterricht genutzt werden.

In „Situational Judgement Tests“ werden videobasierte oder schriftliche hypothetische Situationen vorgegeben. Die Teilnehmenden sollen dann eine von meist mehreren vorgegebenen Handlungsoptionen auswählen. Unsere Tests enthalten kurze Videos mit Beispielen aus dem beruflichen Alltag von Pflegenden. Diese Video-Vignetten können in Schulen für die Fallarbeit genutzt werden. Sie können außerdem im Rahmen von Prüfungen eingesetzt werden. (Siehe auch den Beitrag zur EKGe-Fachtagung, Anm. d. Red.)

Hinsichtlich der interprofessionellen Kooperationskompetenz sind wir das erste empirische Forschungsprojekt in Deutschland, welches sich die Entwicklung dieser Kompetenz über den Ausbildungsverlauf hinweg anschaut. Zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen, wie diese Kompetenz gefördert werden kann, ist ein wesentliches Ziel, um die Versorgungsqualität von Patientinnen und Patienten zu unterstützen.

Durch die Modellierung der interprofessionellen Kooperationskompetenz und die Untersuchung der förderlichen Bedingungen in den Praxiseinrichtungen können wir außerdem Empfehlungen für die Ausgestaltung der Curricula geben.

Ascot-vet.net: Wie stellen Sie sich den konkreten Einsatz in der Ausbildungspraxis vor? Welche Rahmenbedingungen sollten dafür gegeben sein?

Eveline Wittmann: Zunächst braucht es die Offenheit und Bereitschaft von Lehrkräften, unsere Lehr-Lern-Einheit in der Ausbildungspraxis einzusetzen. Man muss sich die entsprechende Zeit im Unterricht nehmen können. Und es ist für Lehrkräfte zunächst auch eine zeitliche Investition, sich die Durchführung im Unterricht anzueignen. Hierfür werden wir im Projekt entsprechende Informationsmaterialen bereitstellen. Zudem sind wir in Kontakt mit Schulen, damit der Einsatz bestmöglich unterstützt werden kann. Die Lehr-Lern-Einheit wird online öffentlich zur Verfügung stehen.

Ebenso sollen alle Video-Vignetten und die Messinstrumente, die wir entwickelt haben, öffentlich zugänglich sein. Derzeit diskutieren wir noch darüber, wie dies konkret ausgestaltet wird. Die Messinstrumente sind grundsätzlich auch in Förderkontexten rund um die Pflegeausbildung verwendbar. Und wenn unsere Erkenntnisse in die Neuordnung und Modernisierung der Ausbildungsberufe einfließen, wäre das für die Ausbildungspraxis sehr hilfreich.

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Lehr-Lern-Einheit, Video-Vignetten und alle Messinstrumente sollen öffentlich zugänglich sein.

Eveline Wittmann

Ascot-vet.net: Wie sind die Rückmeldungen aus der Praxis bislang?

Eveline Wittmann: Zu den videobasierten Situationen und Testinstrumenten sowie unserer Lehr-Lern-Einheit haben wir bisher sehr positive Rückmeldungen. Laut unseren Erhebungen profitieren die Auszubildenden im zweiten und dritten Ausbildungsjahr zum Beispiel sehr von der Lehr-Lern-Einheit. Auch bei Lehrkräften, die die Einheiten durchgeführt haben, kommt sie hervorragend an. Sie lässt sich im Unterricht gut umsetzen und gibt den Azubis hilfreiche Werkzeuge an die Hand, um mit Belastungen umzugehen. Dass wir mit den bearbeiteten Themen eine wichtige Entwicklungsarbeit leisten, wurde uns aus vielen Richtungen zurückgemeldet: Aus den Expertenworkshops, etwa von Lehrkräften, ordnungspolitischen Vertretern aus dem Deutschen Pflegerat oder ver.di und aus Praxiseinrichtungen der Pflege.

Ascot-vet.net: Wo sehen Sie Anknüpfungspunkte an Ihr Projekt – für andere Berufe, für zusätzliche Einsatzmöglichkeiten, für weitere Forschung?

Eveline Wittmann: Alle Materialien und Instrumente, die wir entwickeln, können für weitere Forschung genutzt werden. Jetzt stehen Messinstrumente zur Bewältigungskompetenz, Kooperationskompetenz und Ausbildungsqualität zur Verfügung, die es vorher nicht gab. Unsere Arbeit liefert überdies Erkenntnisse zu förderlichen Bedingungen der Bewältigungskompetenz und interprofessioneller Kooperationskompetenz in der Pflege. Diese könnten auch für die Operationalisierung der Kompetenzentwicklung in anderen Gesundheitsberufen genutzt werden, etwa bei Medizinischen Fachangestellten.

Projektbeteiligte